Kompakt Spezial 1/2013
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P r o f . d r . M i c h a e l E l s
meisten Erzieherinnen ein solch unange-
nehmes Gefühl bei bestimmtenAktionen
männlicher Kollegen und raten ihnen zur
Vorsicht.
Will man die Frage wissenschaftlich
fundiert untersuchen, so bietet sich als
theoretischer Rahmen die Soziologie der
„Dualität von Struktur und Handeln“ an.
Gesellschaftliche Strukturen und indivi-
duelles Handeln prägen sich wechselsei-
tig, durchdringen sich und bringen sich
gegenseitig hervor: Strukturen prägen
soziales Handeln, insofern sie Handeln
ermöglichen oder begrenzen. Zu den sozi-
alen Strukturen gehören neben „Erwar-
tungsstrukturen“ (formelle und informelle
Normen undRegeln,Moralvorstellungen,
Sitten, Bräuche, Umgangsformen) auch
„Deutungsstrukturen“ (Werte,Leitbilder,
Wissensformen).
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Die Frage ist nun, existiert in unserer
Gesellschaft eine uns prägendeDeutungs-
struktur,wonachmännliche Sexualität als
aktiv, unkontrollierbar, triebhaft und der
Mann als insgesamt latent gewalttätig gilt?
Mehrere empirische Studien weisen in
diese Richtung:
SokommenR.Volz,P. M.Zulehner in ihrer
Studie „Männer in Bewegung,Zehn Jahre
Männerentwicklung in Deutschland“
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zu
demErgebnis:„Gewalttätigkeit“wirdheu-
te sowohl von Männern wie von Frauen
weit eher dem „Männlichen“ zugewiesen
als dem „Weiblichen“. Diese Zuordnung
hat sich zwischen 1998 und 2008 noch ver-
stärkt.
Die BMFSFJ Studie „Männliche Fach-
kräfte in Kindertagesstätten“ stellt fest,
dassMänner zwar durchaus von derMehr-
heit der Eltern in einer Kindertagesstätte
erwünscht sind. In der Studie geben 56%
der Eltern an, dass sie es für wichtig erach-
ten, dass Kinder sowohl von männlichen
als auch von weiblichen Erziehern betreut
werden. Aber nur 60%aller Eltern stim-
men derAussage zu:„IchwürdemeinKind
in derKita bedenkenlos einemmännlichen
Erzieher anvertrauen.“Das bedeutet,dass
40 % der Eltern gegenüber männlichen
Erziehern Bedenken oder Vorbehalte
haben.
Eine experimentelle Studie von A. Hinz
zur geschlechtsstereotypen Einschätzung
vonVerdachtssituationen
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resümiert:„Die
Ergebnisse bestätigten die Hypothese,
dass Situationen mit einem Mann in der
Täterrolle und einer Frau in derOpferrolle
eher [als] „sexueller Missbrauch“ gedeu-
tet werden, als Situationen mit einer Frau
in der Täterrolle und einem Mann in der
Opferrolle.
Das Geschlecht der Probanden spielte
bei der Einschätzung als „sexueller Miss-
brauch“ keine signifkante Rolle:Männer
und Frauen beurteilen dieMissbräuchlich-
keit der geschilderten Situationen gleich.“
Ergänzend zu diesen empirischen Studien
können die Ergebnisse der historischen
Forschung zur sexuellen Sozialisation von
R.-B. Schmidt, M. Schetsche herangezo-
gen werden, die die Historie einer unsere
Gesellschaft durchziehenden „Verdäch-
tigung“ männlicher Sexualität als eines
primär triebgesteuerten und schwer zu
kontrollierenden Begehrens herausar-
beiten.
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Die historisch-soziologische Forschung
zum Wandel des Männerbildes von C.
Kucklick
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schließlich belegt, dass die
Philosophie vom schlechten, unmorali-
schen Mann weit vor demFeminismus zu
Beginn der Moderne um 1800 entstanden
ist. „Vorher hielt manMänner wie Frauen
für göttlichen Ursprungs, also im Prinzip
für gelungen, aber zur Sünde neigend.
Keines der Geschlechter war moralisch
besser oder schlechter, aber Männer
selbstverständlich zur Herrschaft berufen.
Innerhalb von zwei Generationen wurde
dieseVorstellung umgekrempelt. Ein his-
torisch einmaliger Diskurs hob um 1800
an,derMänner als das Zentralproblemder
Gesellschaft beschrieb: als unmoralisch,
egoistisch, emotionslos, triebgesteuert,
gewalttätig, verantwortungslos. […] Ent-
scheidend ist,dass das neueDenken nichts
mit dem Verhalten von Männern zu tun
hatte.Aber viel mit der modernenGesell-
schaft, die in jener Zeit sichtbar wurde:
Arbeitsteilung, Individualisierung,Zerfall
der Traditionen. Die neue Gesellschaft
2 Begriff nach: Christoph Kucklick: Das unmorali-
sche Geschlecht. Zur Genese der negativen Andrologie,
2008.
3 Quelle: Robert Gugutzer: Verkörperung des
Sozialen, 2012, S. 98 f.
4 Volz, R./ Zulehner, P.M.: Männer in Bewegung.
Zehn Jahre Männerentwicklung in Deutschland. (Hrsg.)
BMSFSJ, 2009.
5 Arnold Hinz: Geschlechtsstereotype bei der Wahr-
nehmung von Situationen als „sexueller Missbrauch“.
Eine experimentelle Studie, 2001, S. 214-225.
6 Renate-Berenike Schmidt, Michael Schetsche:
Sexuelle Sozialisation, Berlin 2009, S. 10 f., 15 f.,
57-85.
7 Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht.
Zur Genese der negativen Andrologie, 2008.