Page 6 - geschlechterperspektiven

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2 Kinder sind Jungen und Mädchen
2.1 Was steht am Anfang? Die Anlage-Umwelt-Kontroverse aus fachlicher
Sicht
Die Frage nach den Ursachen der Geschlechterunterschiede ist nach wie vor ein
umstrittenes Thema. In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
fand die Ansicht Verbreitung, dass in erster Linie Umwelteinfüsse für die
Ausbildung geschlechtstypischen Verhaltens verantwortlich sind. In den letzten
beiden Jahrzehnten wurden biologische Erklärungsansätze zunehmend populär,
die behaupten, dass typisches Verhalten von Männern und Frauen in ihren unter-
schiedlichen Gehirnen begründet und daher nicht zu verhindern sei. Auf der ande-
ren Seite stehen heute Sichtweisen, die biologischen Anlagen überhaupt keine
Relevanz für das Verhalten von Frauen und Männern beimessen. Trotz einer Fülle
an vorliegenden Forschungsergebnissen zeichnet sich auch heute in dieser Frage
keine Einigung ab.
Die meisten (wenn auch nicht alle) Fachleute sind sich allerdings darin einig, dass
Wechselwirkungen zwischen Anlage- und Umweltfaktoren für die Entwicklung von
Kindern wesentlich sind. Neuere biologische Forschungen weisen auf die enorme
Plastizität des Gehirns
hin, das sich durch die Erfahrungen, die es macht, fortwäh-
rend verändert – bis ins Erwachsenenalter. Umwelteinfüsse wirken sich also auch
auf den Körper aus (vgl. Eliot 2010).
Die primären Geschlechtsmerkmale werden bereits im Laufe der vorgeburtli-
chen Entwicklung ausgebildet. Nur sehr selten gibt es wirkliche „Intersexualität“,
„Zwischenformen“ zwischen den Geschlechtern, in denen Chromosomen,
Keimdrüsen, innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht „zusammenpassen“.
Davon abgesehen lernen Kinder bereits im Kindergartenalter, die Geschlechter
anhand ihrer Anatomie und ihres Anteils an der Fortpfanzung zu unterscheiden.
Mädchen sind im Durchschnitt bei der Geburt etwas kleiner und leichter als
Jungen. Dem gegenüber steht von Geburt an bis zum jungen Erwachsenenalter
ein gewisser Reifungs- bzw. Entwicklungsvorsprung der Mädchen (vgl. Mietzel,
2002; Rohrmann/Wanzeck-Sielert, 2013). Unübersehbar wird er durch das frü-
here Eintreten in die Pubertät. Er beträgt dann bis ins frühe Erwachsenenalter
hinein etwa ein bis zwei Jahre. Jungen wiederum sind von Geburt an labiler und
krankheitsanfälliger als Mädchen. Dies gilt für die überwiegende Mehrzahl der
Entwicklungsstörungen, Behinderungen, Krankheiten und auch für psychosoziale
Auffälligkeiten im Kindesalter. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen Jungen
und Mädchen im Kindesalter jedoch gering. Individuelle Unterschiede fallen weit
größer aus, als der durchschnittliche Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Wie groß der Einfuss der Eltern auf die Entwicklung von Geschlechterunterschieden
ist, ist umstritten. Neben den Eltern sind auch die Einfüsse von anderen Erwachsenen
sowie vor allem anderen Kindern wichtig. Eltern, insbesondere Väter, bestärken ten-
denziell geschlechtstypisches Verhalten – oft obwohl ihnen das nicht bewusst ist
und sie dies nicht beabsichtigen. So ist Eltern in den ersten Lebensjahren wichtig,
dass ihr Kind als Mädchen oder Junge erkannt wird – zum Beispiel an der Kleidung.
Später verhalten sie sich Jungen und Mädchen gegenüber weniger unterschied-
lich oder bemühen sich sogar, der bei älteren Kindern immer deutlicher werdenden
Tendenz zu geschlechtsstereotypem Verhalten entgegenzuwirken.
Es lässt sich zusammenfassen, dass Biologie und Gehirnforschung die
Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht ausreichend erklären können.
Auf der anderen Seite sind Geschlechterunterschiede auch nicht einfach „aner-
zogen“.
Ursachen von
Geschlechterunterschieden
nach wie vor umstritten
Wechselwirkungen sind
entscheidend
Entwicklungsvorsprung
der Mädchen
Eltern bestärken
unbewusst geschlechts­
typisches Verhalten