caritas aktuell - Ausgabe 01/2016 - page 13

caritas
aktuell
1/ 2016
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Abstinent werden ist für suchtkranke
Menschen eine enorme Herausforde-
rung. Abstinent bleiben ist eine noch
größere. Auch deswegen haben Teilneh-
mer der Suchtselbsthilfe in Neuss vor
über 30 Jahren das Ons Zentrum ge-
gründet.
Unter dem Dach des Caritasver-
bandes ist daraus ein lebendiger alkohol-
freier Treff gewachsen. Er bietet Men-
schen, die eine Suchterkrankung über-
winden wollen oder überwunden haben –
und ganz ausdrücklich auch deren Ange-
hörigen –, einen Treffpunkt zumAustausch
und zur Freizeitgestaltung. „Das Ziel war,
nach der Therapie einen Treff zu haben, zu
dem man kommen kann, wenn einem
Zuhause die Decke auf den Kopf fällt und
sich Suchtdruck aufbaut“, erklärt Manfred
Klein, Leiter des Ons Zentrum. „Sich aus-
schütten zu können, baut Druck ab.“
Waltraud Nabakowski weiß das nur
zu gut. Ihr Ehemann war alkoholkrank.
Sie hat den ganzen Leidensweg als nicht
selbst Suchtkranke, aber mitbetroffene Co-
Abhängige miterlebt. Die Heimlichkeiten,
die Scham, das Abstreiten, die Beschwich-
tigungen des Ehemanns, er habe alles unter
Kontrolle, die immer wieder gebrochenen
Versprechungen, dass ab sofort Schluss sei
mit dem Alkohol.
Jahrelang ging das so, ehe sich ihr Ehe-
mann zur Therapie entschloss undWaltraud
Nabakowski mit ihm in die begleitende
Selbsthilfegruppe ging. Vor 16 Jahren kam
sie zum ersten Mal ins Ons Zentrum, das
damals noch an der Jülicher Straße war.
Bald wurde sie angesprochen, ob sie nicht
ehrenamtlich in der Cafeteria helfen woll-
te. „Ich habe es mir zuerst nicht zugetraut.
Ich hatte Angst, war nervlich ganz unten“,
erinnert sie sich. Waltraud Nabakowski
machte es trotzdem.
„Das war das Beste, was mir passieren
konnte“, sagt sie heute. „Das Gefühl,
sich mit anderen Betroffenen austau-
schen zu können und gebraucht zu wer-
den, hat mir enormes Selbstvertrauen
gegeben: Ich bin doch jemand, ich bin
wertvoll.“
„Ich bin wertvoll!“
Seit 16 Jahren ist die 70-Jährige nun
Ehrenamtlerin im Ons Zentrum. Sie hat
unzählige Menschen durch die Tür gehen
sehen und dabei nicht selten in ihr eigenes
Spiegelbild geblickt: in die Angst, die Un-
sicherheit, die Schüchternheit, die Ver-
zweiflung. Dann geht sie auf die Leute zu.
Ganz offen und unverblümt. Sie erzählt ih-
re eigene Geschichte, ihren eigenen Lei-
densweg. Einmal hat sie das sogar auf ganz
großer Bühne getan: 2006, bei der Einwei-
hung des neuen Ons Zentrum an der Rhey-
dter Straße. Jede Menge Prominenz aus der
lokalen Politik war da – an der Spitze der
heutige Bundesgesundheitsminister Her-
mann Gröhe. Nicht nur ihren eigenen Ehe-
mann rührte sie mit ihrer Rede zu Tränen.
Der ist übrigens bis heute abstinent und
ebenso wie seine Ehefrau Ehrenamtler im
Ons Zentrum.
Jeden Montag ab 16 Uhr haben die
Nabakowskis Dienst im Ons Zentrum.
Sie bieten Getränke, Kuchen, Kartoffel-
salat, Sandwiches, Frikadellen oder Eis
an. Viele Stammgäste essen ihren Ama-
rena- oder Krokant-Becher ausschließ-
lich „à la Waltraud“. Dazu gibt es bei
Bedarf kostenlose Lebensratschläge und
Gespräche unter Freunden und Gleich-
gesinnten.
Unter den Besuchern und Betrof-
fenen sind Hartz IV-Empfänger ebenso wie
Rechtsanwälte.
Das Ons Zentrum ist der niederschwel-
lige Einstieg in ein weiterführendes Hilfe-
system. Ehrenamtler wie Waltraud Naba-
kowski spielen dabei eine entscheidende
Rolle. Sie bauen durch Authentizität und
den daraus entstehenden besonderen
„Draht“ zu den Betroffenen die Brücke zur
professionellen Beratung und Therapie im
gleichen Haus.
Aktuell sorgen etwa zwei Dutzend Eh-
renamtler dafür, dass das Ons Zentrum
läuft. Weitere werden gesucht, sagt Man-
fred Klein: „Wir wollen täglich öffnen,
denn Suchtdruck macht nicht sonntags
Pause.“ Wie wichtig das ist, weiß Waltraud
Nabakowski aus eigener Erfahrung: „Mein
Mann ist auch deswegen nicht rückfällig
geworden, weil er im Ons Zentrum Halt
hatte.“
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