caritas aktuell - Ausgabe 01/2016 - page 8

caritas
aktuell
1/ 2016
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Jede Nacht zwischen 0 und 2 Uhr sitzt
eine Gestalt im dämmrigen Flurlicht.
Renas heißt der junge Mann, der in der
Stille des kahlen Ganges an seiner Zu-
kunft arbeitet
. Die beiden Stunden nach
Mitternacht sind Renas‘ bevorzugte Lern-
zeit. Denn dann ist es ruhig in der Flücht-
lingsunterkunft am Nordbad. Tagsüber ist
es hier recht wuselig – wie es halt zugeht,
wenn bis zu 92 Menschen auf eher beeng-
tem Raum miteinander leben. Renas lernt
nachts Deutsch. Vor dem Zimmer, in dem
er mit seiner Mutter Amina und seinem
kleinen Bruder Mohammed lebt, hängt
eine Art Vokabeltrainer: Auf mehreren Pa-
pierbögen hat der junge Syrer Kolonnen
von deutschen Wörtern samt ihrer arabi-
schen Entsprechung notiert. „warten“,
„bleiben“, „fliegen“, „das Licht“, „der
Wecker“, „das Bügeleisen“, „die Paprika“,
„der Salat“ – alles fein sortiert nach Ver-
ben, Substantiven und Adjektiven.
Nach der nächtlichen Vokabeleinheit
geht Renas schlafen. Das etwa 16 Quadrat-
meter große Zimmer teilt er sich mit seiner
Mutter und seinem Bruder. Drei Betten, ein
Kühlschrank, ein Tisch mit drei Stühlen
und ein schlichter Kleiderschrank bilden
die karge Möblierung. Es gibt eine Ge-
meinschaftsküche mit mehreren Kochstel-
len. Über die Nutzung verständigen sich
die Familien in der Unterkunft recht rei-
bungslos.
Um neun Uhr morgens steht Renas‘
nächste Lerneinheit auf dem persönlichen
Tagesplan. Bis 13 Uhr besucht er werktags
einen Sprachkurs – es ist die Vorstufe zu
einem Integrationskurs, der wiederum ent-
scheidend dafür ist, in Deutschland gesell-
schaftlich und beruflich Fuß fassen zu
können. Der 23-Jährige ist ehrgeizig und
Ein Tag im Leben eines Flüchtlings
hoch motiviert: In vier Monaten will er
Deutsch lernen – zumindest so, dass er sich
im Alltag verständigen kann.
Im Oktober 2015 ist Renas mit seiner
Familie in Deutschland angekommen. Seit
November lebt er in Neuss in der
Flüchtlingsunterkunft am Nordbad. Sein
Vater ist durch eine Verwechslung im
Bürokratie-Apparat in Aachen einquartiert
worden – die Familienzusammenführung
läuft.
Renas mag Deutschland. Warum?
„Weil hier alle Menschen gleich sind“,
sagt er. Für ihn ist das alles andere als
selbstverständlich. Renas ist Kurde, die
Familie hat im syrisch-türkischen Grenz-
gebiet in der Nähe der im syrischen
Bürgerkrieg weitgehend zerstörten Stadt
Aleppo gelebt. Als der Krieg 2011 be-
gann, war Renas Student in Syrien. Er
floh in die Türkei, wo er sich als Maler
und Gelegenheitsarbeiter durchschlug.
Als Kurde war er dort genausowenig
willkommen wie in seiner ursprüngli-
chen Heimat.
Mit 57 Leuten, zusammengepfercht auf
einem winzigen Boot, überlebte er die
Überfahrt nach Griechenland. Über die
Balkanroute schaffte er es mit seiner Fa-
milie schließlich nach Deutschland. „Wir
möchten hier in Frieden und Freiheit
leben“, das ist sein Herzenswunsch. Dafür
lernt Renas – nicht nur nachts und mor-
gens, sondern auch nachmittags. Dann bie-
ten ehrenamtliche Helfer Deutschkurse in
der Flüchtlingsunterkunft an.
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