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Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
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PRO
Solange esMenschen gibt, die
hungern, solange kannman doch
keine Lebensmittel wegwerfen
Von Hildegard Roderich*.
Sie ist ehrenamtliche Mitarbeiterin der „Tafel“ in Köln
S
eit drei Jahren bin ich ehrenamtliche Mitarbeiterin
bei der „Tafel“, einem Verein zur Lebensmittelver-
gabe an Bedürftige. Ich selbst arbeite als Steuerfa-
changestellte. Auf die „Tafel“ bin ich gekommen,
weil ich mitbekam, dass eine Nachbarin dort ihre
Lebensmittel holte. Und das hatte mich schon beschäftigt,
denn das hätte ich jetzt nie so gedacht von ihr, also, klar,
sie ist alleinerziehend, ein ganz kleines Kind ist noch dabei,
aber die geht auch noch arbeiten. Und so bin ich dazu
gekommen, bei der „Tafel“ zu helfen. Man sieht sich ja auch
in der Verantwortung, mehr zu tun, sich zu engagieren,
für Menschen, denen es nicht so gut geht wie einem selbst.
Solange es Menschen gibt, die hungern, solange kann man
doch keine Lebensmittel wegwerfen.
Die Unternehmen, die die „Tafel“ unterstützen,
geben alle Lebensmittel ab, die kurz vorm Ablauf-
datum sind, die die Kunden dann nicht mehr aus
den Fächern nehmen. Die holt die „Tafel“ ab, mit
der Bedingung, dass ausnahmslos alles abgeholt
wird. Wir sortieren das dann aus, es ist ein totales
Durcheinander. Wir müssen auf das Verfallsdatum
achten und portionieren auch große Verpackungen
zu kleineren Päckchen. Wir haben natürlich Abfall
dazwischen, das müssen wir aussortieren.
Wir sind quasi für die Geschäfte auch eine gün-
stige Möglichkeit, den Abfall zu entsorgen. Das ist
ein Geben und Nehmen. Und es haben doch alle
etwas davon. Die Empfänger sind einige Obdach-
lose, meistens Rentner, Flüchtlinge, alleinstehende
Frauen mit Kindern und auch junge Arbeitslose auf
Hartz IV. Wir fragen die Leute immer, was sie haben
möchten, Obst oder Gemüse. Und die sagen dann,
was sie wollen. Es ist manchmal auch schwierig, es
ist ja nicht immer das gleiche Angebot da.
Ehrenamt muss man sich schon erlauben kön-
nen, als Rentner oder als Besserverdiener, klar, aber
wenn wir das nicht machen würden, dann gäbe
es doch keine Institution, die für uns einspringen
würde, die Leute würden dann eben noch mehr
hungern.
Da leistet das Ehrenamt Großes, das anders gar
nicht zu bewerkstelligen ist. Und das Gefühl, etwas bewegen
zu können, das bringt einem viel Erfüllung. Ja, und was da
von den Menschen zurückkommt, das ist schon eine große
Bereicherung!
*
Name geändert
CONTRA
Markt des guten
Gefühls – „Tafeln” als
moralische Dienstleister
Von Prof. Dr. Stefan Selke.
Der Soziologe lehrt an der Hochschule Furtwangen
A
ls mich die London School of Economics bat,
einen Beitrag zu „Tafeln“ zu verfassen, stand
das Konzept der Armutsökonomie im Mit-
telpunkt: „Tafeln“ tragen dazu bei, dass mit
Armut Profit gemacht wird, weil die symbo-
lische Linderung von Armut als Reputation anpreisbar ist.
ls moralische Unternehmer bieten „Tafeln“ der Wirtschaft
eine zeitgemäße Form „moralischen Kapitals“ – die weiß es
zu nutzen.
„Tafeln“ lernten, wie Unternehmen zu denken und ver-
gaßen dabei die Ära der sozialen Bewegung. Sie erzeugten
Resonanz mit „Marken“, rationalisierten Engagement,
differenzierten Produkte, spezifizierten Zielgruppen und
griffen nach verhaltensökonomischen
Prinzipien in den Alltag ihrer „Kun-
den“ ein. Sie setzten ihre Vormachtstel-
lung juristisch durch, nutzten Formen
moderner Spendenökonomie (z.B.
Lidl-Pfandflaschenautomat) und ver-
hielten sich wie Unternehmen, die nach
Effizienz und Wachstum streben.
Vor allem aber trugen sie in den
letzten Jahrzehnten zur Warenwer-
dung von Armut bei. Dies begann mit
der Transformation „abgeschriebener“
Lebensmittel in ein Gut, das dennoch
nach ökonomischen Kennzahlen bezif-
fert wurde. Und weil bei „Tafeln“ aus
Knappheitsmanagement inzwischen
Regelversorgung geworden ist, tragen
sie entscheidend zur Entpolitisierung
von Armut bei. Diese demonstrative
Linderung ist das Angebot der Marke
„Tafel“. Die Ausweitung ökonomischen
Handelns um eine moralische Basis
herum, ist hingegen die Nachfrage der
Armutsökonomie. Über Reputations-
management finden „Tafeln“ und Wirt-
schaft zusammen.
Nachhaltig ist das alles nicht. Die
„Tafel“-Bewegung wird auch ihr 25jäh-
riges Jubiläum „feiern“. Das zeigt nur, dass die Debatte in
einem „lock-in“-Prozess feststeckt. Es geht nur noch darum,
über alternative „Tafeln“ zu reden, anstatt über Alternativen
zu „Tafeln“. Eine Gesellschaft aber, die zulässt, dass Enga-
gement als ökonomische Steuerungsgröße genutzt werden
kann, macht sich an ihren schwächsten Bürgern schuldig.
Bundesweit gibt es mehr als 3000 Tafel-Läden und
Ausgabestellen
Die „Tafeln“ – Essen, wo es hingehört?
Jo Schwartz
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