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Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
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„Es gibt ein ethisch gebotenes
Recht auf Arbeit für alle, auchwenn
sie schwer vermittlungsfähig sind“
M
arkus Harmann sprach für den
strassen-
feger
mit dem neuen Berliner Erzbischof
Dr. Heiner Koch über die unterschied-
lichen Gesichter von Armut, das zuneh-
mende Problem der Wohnungslosigkeit
und darüber, ob ein öffentlich geförderter Beschäftigungs-
sektor notwendig ist.
strassenfeger: Sie wirkten als Weihbischof in Köln, als
Bischof in Dresden-Meißen und wurden im September in
das Amt des Berliner Erzbischofs eingeführt. Sie kennen
also viele deutsche Metropolen und auch die Situation
der Armen. Inwieweit unterscheidet sich die Armut in den
deutschen Regionen voneinander?
Erzbischof Koch:
In den Großstädten erleben wir eine
besonders verfestigte Armut und sie ist vielleicht auch
sichtbarer, weil wohnungslose Menschen oder Menschen
mit Suchterkrankungen sich häufiger in größeren Zahlen
im öffentlichen Raum aufhalten. In Berlin sind rund 10 000
Menschen wohnungslos oder leben in Notunterkünften. Das
ist eine sehr hohe Zahl. Sie sind auf Suppenküchen ange-
wiesen und überleben oft nur schlecht auf der Straße. Ein
anderes Phänomen sind die vielen sogenannten Armutsmi-
granten aus Ost- und Südosteuropa, die von Arbeitgebern
und Vermietern häufig ausgebeutet werden.
Und die Situation im ländlichen Raum?
Dort ist die Armut leiser und weniger sichtbar. Im Osten
haben viele Menschen eine sehr niedrige Durchschnittsrente
und die Wege zu Ärzten und Ämtern sind im ländlichen
Raum sehr weit. Viele leiden unter Einsamkeit und Perspek-
tivlosigkeit. Manche erleben sich als Wendeopfer, weil sie
in der DDR eine gesicherte Existenz hatten und nach der
Wende oft ihren Arbeitsplatz verloren und nie wieder Fuß
gefasst haben. Ein anderes Phänomen ist die Perspektivlo-
sigkeit in strukturschwachen Gebieten, wo oft nur die übrig
bleiben, die nicht weg können.
Ist der Umgang mit Armen je nach Region unterschiedlich?
Ich erlebe prinzipiell keine großen Unterschiede, aus-
genommen die genannten Erfahrungen in der DDR und
die Situation nach der Wende. Für viele war es ein existen-
tieller Schock, wie sich ihr Leben nach der Wende verän-
dert hat und wie zunächst vieles zusammengebrochen ist.
Viele Betriebe mussten dicht machen. Hilfsbereitschaft und
ehrenamtliches Engagement erlebe ich aber überall gleicher-
maßen.
Angesichts einer guten Konjunktur gibt es viele in Deutsch-
land, die Armut herunterspielen oder sogar behaupten, es
gäbe keine richtige Armut. Was entgegnen Sie denen?
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist sehr positiv
und viel mehr Menschen als noch vor Jahren finden einen
Arbeitsplatz. Trotzdem gibt es weiterhin strukturelle Armut
und Benachteiligung. Dies ist etwa die Bildungsbenachtei-
ligung bei Kindern aus einkommensschwächeren Fami-
lien. Ebenso haben es nach wie vor die Menschen schwer
auf dem Arbeitsmarkt, die mehrere Handicaps haben, etwa
auch suchtkrank sind. Besonders von Armut betroffen sind
Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern. Ein
zunehmendes Problem ist die Wohnungsarmut aufgrund
steigender Mieten – gerade in den Ballungsräumen. Daran
ändert auch die bessere Arbeitsmarktsituation wenig. Men-
schen mit Behinderung finden kaum einen Arbeitsplatz bei
aller wirtschaftlichen Entwicklung.
Welche Möglichkeiten der Kirche sehen Sie, soziale Unge-
rechtigkeit und Armut zu vermeiden?
Die Kirche kann zum einen politisch für soziale Gerech-
tigkeit eintreten und durch die Caritas und andere Verbände
sozial- und arbeitsmarktpolitische Konzepte einbringen. Die
Caritas engagiert sich besonders für die Stärkung von Kin-
dern von Geburt an. Denken Sie an die frühen Hilfen, also
die Begleitung benachteiligter Familien durch ehrenamtliche
Paten und Familienhebammen. Ein anderes Projekt ist die
Der Berliner Erzbischof
Dr. Heiner Koch
erzbistumberlin.de/Walter Wetzler
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