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Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
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„Fingerspitzengefühl ist
nicht gefragt“
Innenansichten aus dem Jobcenter
Andrea Meyer* (43) arbeitete von 2009 bis 2013 als Sach-
bearbeiterin und Arbeitsvermittlerin im Jobcenter Köln.
Hier schildert sie ihre Erfahrungen aus dieser Zeit.
„Zu meinem Team im Jobcenter gehörten 15 Personen.
Wir waren zuständig für rund 1 400 Hartz-IV-Bedarfsge-
meinschaften – das entsprach etwa 5 000 Personen. Unsere
Aufgabe war es, Anträge zu prüfen und darüber zu ent-
scheiden, ob zum Beispiel ein Kinderwagen oder ein Kühl-
schrank finanziert wird. Für die Arbeitsvermittlung war ein
anderes Team zuständig.
Es gibt Menschen, die kommen jede Woche ins Jobcen-
ter und bitten um Hilfe. Vielen von ihnen wäre auch mit
einem höheren Regelsatz nicht geholfen, sie bekommen ihr
Leben einfach nicht auf die Reihe. Sie bräuchten eine ganz
enge Betreuung, aber das ist natürlich nicht leistbar. Aber
es gibt eben genauso den ehemaligen Facharbeiter, der 40
Jahre in einem Autozulieferbetrieb gearbeitet hat, bevor er
arbeitslos wurde, sich schämt und überhaupt nicht weiß, was
ihm eigentlich zusteht. Oder die russlanddeutsche Akademi-
kerin, die einfach keinen Job findet, weil sie noch nicht gut
genug deutsch spricht.
Die Arbeitsvermittler haben Vorgaben, wie viele Men-
schen sie zu integrieren haben – und das wird ziemlich
genau kontrolliert. Integrieren kann auch bedeuten: in eine
Maßnahme zu vermitteln. Das erklärt, warum Hartz-IV-
Empfänger in so viele, oft unpassende Maßnahmen und
Programme geschickt werden. Hauptsache, die Vermitt-
lungsquote stimmt, und damit die Statistik für die Veröf-
fentlichung der aktuellen Arbeitslosenquote. Denn wer
,integriert‘ ist, kommt in der Arbeitslosenstatistik nicht
mehr vor.
Immer häufiger sucht dabei ein Computer die pass-
genauen Maßnahmen heraus, dabei wäre genau hier die
Menschenkenntnis des Vermittlers notwendig. Aber Fin-
gerspitzengfühl und Eigenverantwortung sind im Jobcen-
ter nicht gefragt. Gezieltes Fördern bleibt immer mehr auf
der Strecke, auch weil das Geld für die Maßnahmen massiv
gekürzt wurde. Dabei hieß es doch eigentlich Fordern und
Fördern, doch es wird fast nur noch gefordert.
Und das beginnt schon bei den Anträgen auf Arbeitslo-
sengeld II. Da sind bestimmt 20 Seiten auszufüllen, vieles ist
absolut unverständlich – erst recht für Menschen, die nicht
aus dem deutschen Sprachraum kommen. Ich behaupte,
das hat einerseits System, ist andererseits aber auch typisch
deutsch. Alles muss total rechtssicher sein. Das gilt übrigens
für die gesamte Korrespondenz des Jobcenters.
Jobcenter stellen gern Juristen oder Betriebswirte ein,
das ist nachvollziehbar, aber oft sind vor allem pädago-
gische Fähigkeiten gefragt. Denn als Sachbearbeiter brau-
che ich nicht nur Kenntnisse im Verwaltungsrecht, ich muss
auch Händchen halten und deeskalieren können. Ich hatte
mit Menschen zu tun, die am Ende waren. Finanziell am
Boden, ohne Perspektive. Wenn ich diesen Menschen helfen
konnte, hat mich das wirklich glücklich gemacht. Ich habe
zum Beispiel Umzüge in größere Wohnungen genehmigen
können, weil ein Baby unterwegs war. Die Menschen waren
unendlich dankbar dafür.“
Obwohl ich wirklich häufig frustrierten Menschen
gegenüber saß, habe ich es in vier Jahren nur zwei Mal
erlebt, dass ich verbal niedergemacht wurde. Ich glaube, das
hat aber auch viel damit zu tun, wie ernst man die Menschen
und ihre Situation nimmt und wie viel Zeit man sich lässt.
Aber auch hier arbeitet man oft im Widerspruch zum Sys-
tem, denn das lässt einem für längere Gespräche eigentlich
keine Zeit.“
*
Name geändert
Jobcenter Köln. „Hauptsache, die Vermittlungsquote stimmt“
Jo Schwartz
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