strassen|feger - Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz - page 12

Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
12
„Fördern und Fordern“
ist gescheitert!
Für einen Perspektivwechsel im SGB II: befähigen statt aktivieren
Von Prof. Dr. Claus Reis und Benedikt Siebenhaar
A
ls das Sozialgesetzbuch (SGB) II im Jahre 2005
in Kraft trat, sollte es den erwerbsfähigen
Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfe-
empfängern den Zugang zu arbeitsmarktpo-
litischen Instrumenten eröffnen. Gleichzei-
tig blieb aber die grundgesetzlich verankerte Aufgabe der
Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens bestehen.
Damit ist das Gesetz einerseits in der deutschen fürsorge-
rechtlichen Tradition verankert, andererseits steht es in
einem Diskurs- und Programmzusammenhang, der die
„Aktivierung“ von Arbeitslosen als anzustrebendes Leitbild
staatlicher Sozialpolitik formulierte:
 Der Zugang zu den Arbeitslosen soll individualisiert
erfolgen: Dem individuellen Zuschnitt von Maßnahmen
und Angeboten steht die Forderung an die Arbeitslosen
gegenüber, Verantwortung für ihre Beschäftigungsfähigkeit
und ihre Arbeitsmarktintegration zu übernehmen.
 Beschäftigung wird als Königsweg zu sozialer Integration
angesehen: Das Aktivierungsparadigma wird von einem in
der Gesellschaft tief verankerten Mythos getragen, demzu-
folge nur Erwerbsarbeit soziale Integration sichert und des-
halb als Bürgerpflicht anzusehen ist.
Von Beginn an waren das Gesetz und seine Wirkungen
heftig umstritten. Befürworter verwiesen auf den mit dem
SGB II in Verbindung gebrachten Abbau von Arbeitslosig-
keit, Kritiker stellten genau diese Verbindung in Frage und
zeigten auf, dass eines der wesentlichen Ziele, die Verhin-
derung von Langzeitarbeitslosigkeit, verfehlt wird – damit
laufe die „Aktivierung“ („Fördern und Fordern“) ins Leere
und verkomme zu einer „Aktivierung ohne Arbeit“.
Tatsächlich zeigt eine vom Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung 2011 veröffentlichte Studie, dass eine
Anhäufung von Vermittlungshemmnissen, wie sie für Bezie-
her von SGB II-Leistungen typisch ist, den Ausstieg aus der
Arbeitslosigkeit erschwert. Nur acht Prozent der Langzeitar-
beitslosen wiesen keine Risiken auf, dagegen aber 42 Prozent
drei Risiken und mehr – und hatten damit eine Chance von
bestenfalls 4,3 Prozent, wieder unmittelbar im Arbeitsmarkt
Fuß zu fassen.
Trotz dieser Befunde verfolgen die Verantwortlichen
eine Politik des „Mehr desselben“ – die Orientierung an
rein auf den Arbeitsmarkt zentrierten Programmen und
Projekten bleibt ungebrochen, das Aktivierungsparadigma
wird nicht hinterfragt. Die Jobcenter stehen weiterhin unter
dem Erfolgszwang, den das Steuerungssystem des SGB II
setzt: Zentrale Erfolgskriterien sind die Integration in den
Arbeitsmarkt und die Beendigung von Hilfebedürftigkeit –
unter Missachtung der breiter ansetzenden Zielsetzung des
§ 1 SGB II. Dies bringt die Beschäftigten in paradoxe Hand-
lungssituationen, die ein Fallmanager auf den Punkt bringt:
„Man bedient zwei Welten; da gibt es zum einen die Ziele,
die erreicht werden sollen und vorgegeben sind, und zum
anderen gibt es Parallelziele“; man muss die Waage halten
„zwischen Sozialarbeit und Statistik“, so dass man „auf zwei
Feldern spielt“.
Die Nationale Armutskonferenz (nak) hat bereits Anfang
2014 eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Situ-
ation von Leistungsberechtigten nach dem SGB II gemacht,
die aber in der politischen Diskussion wenig Resonanz
gefunden haben. So wurden zur Überwindung von Armut
mehr Hilfen und Dienstleistungen zur sozialen Teilhabe
gefordert und die arbeitsmarktzentrierte Ausrichtung bei
der Umsetzung des SGB II kritisiert. Die Begründung der
Nationalen Armutskonferenz, dass es dabei für die Lei-
stungsberechtigten um ihr Recht auf Selbstbestimmung,
Autonomie und Unterstützung bei der Verbesserung der
sozialen Teilhabe geht, deckt sich mit verfassungsrecht-
lichen Vorgaben im SGB II. Denn Ziel der Grundsicherung
für Arbeitsuchende ist nach § 1 Abs. 1 SGB II, „es Leistungs-
berechtigten zu ermöglichen, ein Leben zu führen, das der
Würde des Menschen entspricht“. Und unter dieser Zielset-
zung ist nicht eine Aktivierung zur unmittelbaren Integra-
tion in den Arbeitsmarkt zu verstehen, sondern ganz in der
Tradition des Sozialhilferechts eine Hilfe zur Selbsthilfe, um
eine Autonomie und Entwicklung der Persönlichkeit zur
Sicherstellung sozialer Teilhabe zu ermöglichen.
Angesichts des Scheiterns des Aktivierungsparadigmas
im Hinblick auf die Vermeidung von Langzeitbezug ist es
an der Zeit, eine konzeptionelle Neuorientierung einzuleiten
und nicht immer wieder die gleichen erfolglosen Medika-
mente einzusetzen.
Einen Ansatzpunkt hierzu liefert eine Diskussion, die in
der internationalen Sozialpolitikforschung vor einigen Jahren
angestoßen wurde – auf der Basis der Rezeption des „Capa-
bility Approach“ wurde die Überwindung des Aktivierungs-
Paradigmas in Richtung auf eine „Politik der Befähigung“
angeregt, um soziale Teilhabe zu sichern und die „Verwirkli-
chungschancen“ der Menschen zu verbessern, die nicht nur
auf dem Arbeitsmarkt von Prekarisierung bedroht sind.
Befreit man das SGB II von der fragwürdigen einseitigen
Ausrichtung an nur bedingt geeigneten Erfolgsdimensi-
onen, ergibt sich eine Agenda, die mit hohen professionellen
Anforderungen an das Fallmanagement verknüpft ist:
 Die Stärkung individueller Autonomie erfordert explizit
die Auseinandersetzung mit Personen und deren „Fort-
schritten“ an Zugewinn von Teilhabemöglichkeiten.
 Die Arbeitsbeziehung sollte „symmetrisch“ gestaltet sein,
da es ja gerade darauf ankommt, die Klienten als Ko-Produ-
zierende ernst zu nehmen.
 INFO 
Dr. Claus Reis
,
Professor für
Sozialarbeit am
Fachbereich
Soziale Arbeit und
Gesundheit der
Frankfurt
University of
Applied Sciences
Benedikt Sieben-
haar
, ehemaliger
Gruppenleiter im
Ministerium für
Arbeit, Integration
und Soziales des
Landes Nordrhein-
Westfalen
nak
nak
1...,2,3,4,5,6,7,8,9,10,11 13,14,15,16,17,18,19,20,21,22,...28
Powered by FlippingBook