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Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
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„Hartz IV setzt auf die
Angst der Menschen“
Dr. Frank Johannes Hensel, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, über politisch
einkalkulierte Armut und unanständige Vermögens- und Einkommensunterschiede
I
m Interview mit dem strassenfeger zieht Dr. Frank
Johannes Hensel, Sprecher der Nationalen Armutskon-
ferenz, eine bittere Bilanz zu zehn Jahren Hartz IV. Die
Gesetzgebung verhindert seiner Ansicht nach gesell-
schaftliche Teilhabe und festigt Armutsstrukturen.
strassenfeger: Was genau ist die Aufgabe der Nationalen
Armutskonferenz?
Frank Johannes Hensel:
Die Nationale Armutskonferenz
trägt der Politik eindringlich und stetig vor, welche Auswir-
kungen Armut und soziale Ausgrenzung haben. Sie erklärt,
wie sehr zu niedrige Löhne und Regelsätze zu Verarmung
und Ausgrenzung beitragen. Wir – und viele andere Orga-
nisationen – bieten aus Erfahrung begründete Lösungen an
und arbeiten daran mit. Es gibt viele Studien, die die Zusam-
menhänge von Armut und Krankheit, Armut und mangel-
hafter Bildung oder Armut und sozialer Ausgrenzung glas-
klar belegen.
Und die Politik, wie reagiert die?
Geändert hat sich leider wenig bis gar nichts. Nach wie
vor hängt der Schulabschluss ganz stark vom Einkommen
und der sozialen Situation der Eltern ab. Es gibt keineswegs
bedarfsgerechte Regelsätze, schon gar nicht für Kinder. Es
geht wieder vielmehr um Obdach, Nahrung und Kleidung,
und die Dienste der reinen Existenzhilfe werden in der Not
immer mehr. Das ist kein natürliches Phänomen, sondern
die Folge von politischen Fehlentscheidungen und Unter-
lassungen, es ist politisch einkalkuliert.
Sie kritisieren, dass Hartz IV dazu beigetragen hat, dass
sich in Deutschland ein Niedriglohnsektor verfestigt.
Woran liegt das?
Die Hartz-IV-Gesetzgebung drängt jeden, praktisch jede
Arbeit anzunehmen und droht ansonsten mit Kürzungen.
Hartz IV setzt also auf die Angst der Menschen. Diese Angst
führt dazu, dass die Menschen eine Arbeit auch unter Wert
annehmen. Diese Zwangssituation trägt zur Verfestigung
von Niedriglöhnen bei.
Tragen auch staatliche Stellen zu niedrigen Löhnen bei?
Ja, durch Ausschreibungen, etwa von Arbeitsmarktmaß-
nahmen, sind Behörden gehalten, den jeweils billigsten
Anbieter zu nehmen. Und billiger wird man ja meist durch
die Senkung der Löhne. Zum anderen entstanden viele
400-Euro-Jobs ohne ordentliche Sozialversicherung, die
reguläre Arbeitsplätze vernichteten. Auch dies begünstigt
einen Niedriglohnsektor und die Altersarmut.
Trotz guter Konjunktur gelten 16,1 Prozent der in Deutsch-
land lebenden Menschen als armutsgefährdet – immerhin
jeder sechste. Warum gelingt es nicht, den Wohlstand
gleichmäßiger zu verteilen?
Das ist eine Frage des gesellschaftlichen und politischen
Willens. Gesetzliche Vorgaben begünstigen zumeist Men-
schen mit hohem Einkommen und das schon so oft und
so lange, dass die Vermögens- und Einkommensunter-
schiede absolut unanständig sind und den Zusammenhalt
gefährden. Bei den Einkommen gibt es seitens des Staates
ja immerhin noch eine Steuerprogression, an die enormen
Vermögen und Erbschaften gehen die verantwortlichen
Politiker aber nicht heran. Hier ruht das mit Abstand mei-
ste Geld, dass für Schwimmbäder, Schulen, Krankenhäuser,
Straßen und soziale Hilfen so dringend gebraucht wird.
Wie sollte der Hartz-IV-Regelsatz gestaltet sein, damit es
für ein menschenwürdiges Leben reicht?
Eine Zahl in die Welt zu setzen und dann zu meinen, dass
es reicht und es keine Armut mehr gibt, entspricht natürlich
nicht der Realität. Die derzeitige Berechnungsgrundlage
aber, wonach alle fünf Jahre das Verkaufsverhalten ausge-
wertet und die unteren 15 Prozent, also die Personen mit
dem geringsten Nettoeinkommen, zum Maßstab genommen
werden, ist nach politischer Kassenlage so gemacht worden.
Vormals waren es übrigens noch die unteren 20 Prozent, es
ist also einfach so gesetzt worden. Man stelle sich vor, die
Politiker hätten den Mut gehabt, sich am unteren Drittel der
Bevölkerung zu orientieren, dann sähe der Satz schon ganz
anders aus.
Für Kinder sollte ein klares Grundeinkommen berechnet
werden, das alle Kinder bekommen und das nicht, wie beim
Kindergeld, auf Hartz IV angerechnet und den Ärmsten
gleich wieder abgezogen wird.
Die Nationale Armutskonferenz warnt vor zunehmender
Altersarmut: Welche Dimension erwarten Sie?
Wie sehr sich Altersarmut ausweitet, ist noch nicht aus-
gemacht, da die Politik hieran eine Menge ausrichten kann.
Immerhin und Gott sei Dank regelt das Grundgesetz eine
Grundsicherung im Alter. Wohnen und Essen sollte so
gelingen. Es wächst aber ausgerechnet die Abhängigkeit
von staatlicher Hilfe gerade auch bei vielen Menschen, die
ihr Leben lang viel gearbeitet haben, weil das Einkommen
es nicht hergibt, damit eine vernünftige Rente aufzubauen.
Hierzu tragen – auch so ein politischer Wille – die Absen-
kung des Rentenniveaus auf 43 Prozent bis zum Jahr 2030
und der enorme Niedriglohnsektor bei.
Stellen Sie sich vor, Sie haben zwei Wünsche frei, was for-
dern Sie?
Wer Arbeit hat, muss davon leben können! Wer Kinder
hat, darf nicht durch sie und mit ihnen arm sein!
Dr. Frank Johannes
Hensel
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