strassen|feger - Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz - page 21

Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
21
lässigen. Roland Koch, damals noch CDU-Ministerpräsi-
dent von Hessen, reiste wiederholt nach Wisconsin und war
beeindruckt, mit welchem Druck Arbeitslose dort behan-
delt werden. Guido Westerwelle (FDP) sprach von „spätrö-
mischer Dekadenz“.
Also: Wird da jemand endlich aus Starre erlöst und von
den Jobcentern zum Jagen getragen? Pustekuchen. Dass
„Fördern und Fordern“ kein Versprechen an die Erwerbslo-
sen ist, haben wir spätestens nach 2010 gemerkt. Da wurde
der Eingliederungstitel für arbeitsmarktpolitische Leistun-
gen – also der finanzielle Inhalt des „Fördern“-Versprechens
im Bundeshaushalt – auf die Hälfte zurückgekürzt. Heute
sind die Verwaltungskosten in den Jobcentern höher.
Und die Arbeitslosenstatistik? Ein Drittel der Lei-
stungsbeziehenden in der Grundsicherung (Hartz IV) war
schon 2005 dabei, Erwerbslose wie Angehörige. Und nur
ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger ist arbeitslos gemel-
det. Als erwerbsfähig gilt zwar insgesamt die Hälfte aller
Leistungsbeziehenden. Ein großer Teil fällt aber aus der
Arbeitslosenstatistik heraus: geparkt in Minijobs, 1-Euro-
Jobs, Trainingsmaßnahmen und prekären Jobs mit ergän-
zendem Leistungsbezug. Und dann gibt es noch die Nicht-
Erwerbsfähigen, die andere Hälfte. Was heißt Aktivierung
bei leistungsbeziehenden Kindern oder Alleinerziehenden
ohne hinreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten?
Da wären doch zielgenaue Hilfen angesagt – denkt der
naive Leser. Doch woran misst sich der Erfolg des Sozial-
gesetzbuch II? Eben. Arbeitsvermittlung. Was heißt das?
Schnell in einen Job, irgendeinen. Ein Viertel der erwerbs-
fähigen Leistungsberechtigten, die den Leistungsbezug
verlassen, sind nach drei Monaten wieder da. Ein Fünftel
der Bevölkerung Deutschlands pendelt zwischen Hartz IV,
prekärer Beschäftigung und prekärer Selbstständigkeit. Die
Armutsrisikoquote steigt oder stagniert, nimmt aber auch
im Konjunkturaufschwung nie ab – aber die Zahl der Sozi-
alleistungsbeziehenden. Die Arbeitslosigkeit auch. Prekäre
Beschäftigung ist das Arbeitsmarktwunder. Mit Armutsbe-
kämpfung hat das nichts zu tun.
Trotzdem wollen wir das Ziel „gute Arbeit“ nicht aufge-
ben. Es geht um Arbeit, von der Menschen leben können.
Es geht um die Anerkennung von Arbeit, die nicht immer
und unbedingt Erwerbsarbeit sein muss. Wir sprechen
über die Möglichkeit von Menschen, sich mit dem, was sie
 INFO 
„Soziale Teilhabe
durch Arbeit.
Sozialpolitische
Anforderung an die
Beschäftigungsför-
derung“
unter
mutskonferenz.de
oder anfordern
unter
arbeit-soziales@
diakonie.de
oder Telefon
030/652 11 1643
tun, einzubringen. Bei Erwerbsarbeit sind Arbeitgeber in
der Pflicht, anständig zu bezahlen und Tariflöhne einzu-
halten. Wenn sich Erwerbslose ehrenamtlich etwa in der
Selbstorganisation engagieren, dann muss das unterstützt
werden. Warum können nicht Telefon- und Materialkosten
übernommen werden? Dafür klagt sich manche Engagierte
durch die Instanzen. Viele werden vor wichtigen Terminen
im Rahmen ihres Engagements kurzfristig beim Arbeits-
vermittler einbestellt. Um die tatsächliche Verfügbarkeit zu
prüfen.
Ohne öffentlich geförderte Beschäftigung wird es nicht
gehen. Aber ist das ein Sonderfall? Arbeitgebern wird viel
und gern geholfen: In Brandenburg wird die Landschaft
umgepflügt, um Braunkohle abzubauen. Und zu verfeuern.
Das Argument: Arbeitsplätze. Gerät ein Automobilbauer in
Finanznöte, gibt es schnell staatliche Hilfe. Wenn der Kul-
turbetrieb laufen soll, wird er bezuschusst. Wenn ein Well-
nessbad gebaut wird, lockt die Standortförderung für Inve-
storen. Aber wenn es einfach darum geht, dass Menschen
zu fairen Bedingungen mitmachen können? Da wird sich
gedreht und gewunden. Als wenn soziale Teilhabe durch
Arbeit nicht ein soziales Recht ist. Die UNO zählt das zu
den Menschenrechten.
Welche Ziele soll Arbeitsmarktpolitik verfolgen? Es kann
nur um soziale Teilhabe gehen. Wenn Menschen soziale
Probleme haben – dann geht es eben um Hilfe. Das lässt
sich nicht an Vermittlungszahlen messen. Warum muss
jede Schuldnerberatung nachweisen, dass die Vermittlungs-
fähigkeit dadurch besser wird? Es muss um langfristige
Perspektiven gehen. Raus aus der Drehtür zwischen mieser
Arbeit, Hartz IV und Besuch bei den „Tafeln“. Nicht mal
eben schnell vermitteln. Sondern: so fördern, dass sich die
Arbeits- und Lebensmöglichkeiten langfristig bessern. Von
eigener Arbeit leben, mitbestimmen und selber Gesellschaft
mitgestalten.
Hört sich utopisch an: Die Menschen sind nicht einfach
für Arbeit dar. Arbeit ist für die Menschen da. Gute Arbeit
kann ein Teil der Möglichkeiten sein, sich selbst auszudrü-
cken und mitzugestalten. Menschliches Leben ist schließlich
mehr, als eine Wohnung zu haben und genug Geld für Klei-
dung und Essen. Niemand darf mit Sanktionen bezwungen
werden. Der Willen der Einzelnen ist zu achten. Und die
Forderung nach einer gerechteren Gestaltung des Arbeits-
lebens.
Michael David,
Vize-Sprecher
der Nationalen
Armutskonferenz
Herman Bredehorst
1...,11,12,13,14,15,16,17,18,19,20 22,23,24,25,26,27,28
Powered by FlippingBook