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Sonderausgabe
Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz
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„Mal Eis essen gehen, einfach so,
weil man gerade Lust drauf hat – ja,
das wäre ein Leben!“
Obwohl Markus und Sabrina Meßing arbeiten, leben sie und ihre Kinder an der Grenze zur Armut.
Mit ihrem Lohn kommen sie so gerade über die Runden – etwas leisten können sie sich nicht
Markus (36), Sabrina (27), Samantha (4), Finn (2), Justine (5) und Juliano
(10) – das ist Familie Meßing aus Wermelskirchen. Vater und Mutter
arbeiten, die drei Kleinen gehen in den Kindergarten, der Große zur Schule.
Wenn sie alle zusammen sind, ist einiges los. Sie kickern, fahren Rad, toben
durch die Wohnung oder schauen gemeinsam fern. Eigentlich ein ganz
normaler Familienalltag. Wenn da nicht die ständigen Geldsorgen wären.
Die Lebensmittel besorgt sich die Familie bei der „Tafel“. Wenn die Familie
essen geht, dann zum „Kalker Mittagstisch“, den die Gemeinde anbietet.
Von Anna Woznicki
F
amilie Meßing ist eine „working poor family“.
Übersetzt: eine Familie, die an der Armutsgren-
ze lebt, obwohl beide Eltern arbeiten und eige-
nes Geld verdienen. Zwischen 200 und 400 Euro
bleiben der Familie monatlich zum Leben. Dabei
versucht Vater Markus alles, um wirtschaftlich unabhän-
gig zu sein. Viele Jahre arbeitete er selbstständig für einen
Zustelldienst. In drei Jahren leistete er sich nur eine einzige
arbeitsfreie Woche. 85 Cent gab es für ihn pro Paketzustel-
lung, 36 Cent für Kataloge, 79 Cent für Retouren.
Nicht vergütet wurden die kleinen Päckchen, die Markus
Meßing für sich selbst zu tragen hatte: psychischer Druck,
körperliche Anstrengung bis an die Grenze der Belastbarkeit
und zuletzt Depressionen. Die blanke Existenzangst saß ihm
ständig im Nacken.
Seit Anfang des Jahres ist der Familienvater, ausgebildet
als Fachkraft im Gastgewerbe, bei einem Paketdienst fest
angestellt. Und das ist schon eine große Erleichterung für
die Meßings. Benzin oder Fahrzeugreparaturen, dafür müs-
sen sie nicht mehr selbst aufkommen. Auf staatliche Unter-
stützung wie etwa Wohngeld ist Familie Meßing trotzdem
angewiesen – nicht zuletzt wegen der Schulden, die es aus
den Zeiten der Selbstständigkeit noch abzutragen gilt. Der
Familienvater stützt seinen Kopf in die Hände: „Manchmal
kann ich es selbst kaum glauben. Ich arbeite von morgens bis
abends, gehe an meine Grenzen, und es reicht einfach nicht.
Ich arbeite nicht, damit wir gut leben können, sondern nur,
um unsere Rechnungen zu bezahlen.“
Hartz IV kommt für Markus Meßing trotzdem nicht in
Frage: „Ich will das Geld selbst verdienen, wissen, wo es her-
kommt und meinen Kindern ein Vorbild sein.“
Sohn Juliano versteht seinen Vater nicht. „Uns geht es
doch gut. Wir haben alles, was wir brauchen“, sagt er, zeigt
auf den Fernseher, das Sofa und die Süßigkeiten, die seine
Eltern letzte Woche von der „Tafel“ mitgebracht haben. Dass
ein berufstätiger Familienvater am Ende eines Tages jedoch
nicht zur „Tafel“ gehen möchte, sondern in den Supermarkt,
gelegentlich mit seiner Familie in den Urlaub fahren und
seinen Kindern auch einmal neue Kleidung kaufen möchte,
wird Juliano wohl erst verstehen können, wenn er älter ist.
Vater Meßing versucht zu erklären: „Man strengt sich an,
gibt sich Mühe. Deshalb wäre es einfach gerechter, wenn das,
was man tut, ausreichen würde. Dann wäre es fair.“
Daran denkt er auch, wenn er mit seiner Familie in der
langen Schlange zur Lebensmittelausgabe der „Tafel“ steht.
Die meisten, die da mit ihm stehen, arbeiten nicht. Die
bekommen Hartz IV. Markus Meßing nicht – und reiht sich
trotzdem ein. Eine noch größere Überwindung kostet ihn
der „Mittagstisch“. „Da schäme ich mich manchmal richtig.
Und es tut mir leid für meine Kinder, dass sie dort sitzen
müssen“, gesteht er. „Deshalb nehmen wir sie auch so selten
wie möglich mit.“
Markus Meßing hat die große Hoffnung, dass sie bald
wenigstens auf den „Mittagstisch“ verzichten können. „Das
wäre schon eine große Erleichterung.“ Mutter Sabrina unter-
stützt ihren Mann, wo sie nur kann. Sie fährt die Pakete mit
ihm aus und trägt sie, wenn Markus keine Kraft mehr hat.
„Die Selbstständigkeit hat ihn kaputtgemacht“, erklärt sie.
Schöne Kleider, ein Restaurantbesuch, vielleicht einmal in
die Disco – Wünsche, die für die junge Frau unerreichbar
scheinen. „Ich war nie große Sprünge gewohnt. Das alles ist
in meinem Leben nicht drin. Noch nicht.“ Ihr großer Traum
ist es, bald selbst einen Führerschein machen zu können und
ebenfalls im Zustelldienst zu arbeiten. Die Strecken und die
Abläufe kennt sie. Das wäre ein Vorteil für ihren Arbeitge-
ber – und für sie. Dann müsste ihr Mann weniger schuften,
könnte psychisch und körperlich wieder zu Kräften kom-
men, und sie könnte die Familie finanziell unterstützen. Für
ihren Führerschein spart die junge Frau deshalb jeden Cent.
Die Hoffnung, als Familie unabhängig leben zu können,
treibt sie an.
„Ferien machen, vielleicht sogar unsere Hochzeitsreise
nachholen, das kaufen, was einem schmeckt, oder einfach
mal Eis essen gehen, einfach so, weil man gerade Lust drauf
hat – ja, das wäre ein Leben!“
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